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              48 (Juni 1997) Gesetzliche 
              Gleichstellung 
  
Dieser 
              Beitrag will nicht behaupten, in der Schweiz werde nichts "für 
              behinderte Menschen" getan. Es 
              gibt ein flächendeckendes Netz von (Sonder-) Einrichtungen, 
              die vielfältige Leistungen für behinderte Menschen erbringen. 
              Doch je länger, je mehr sind behinderte Menschen die aussondernde 
              und fürsorglich entmündigende Betreuung leid und fordern 
              einen Perspektivenwechsel in der schweizerischen Behindertenpolitik: 
              Behinderte Menschen sollen nicht länger als Objekte dieser 
              Politik gesehen werden. Vielmehr sind sie gleichberechtigte Bürgerinnen 
              und Bürger, die das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstvertretung 
              haben.  Otmar 
              Miles-Paul, sehbehindert und Geschäftsführer des Behindertenverbands 
              "Selbstbestimmt Leben Deutschland", formuliert unmissverständlich: 
              "Behinderung ist weniger eine Frage des individuellen Schicksals 
              und der Wohltätigkeit, sondern vielmehr eine Bürgerrechtsfrage. 
              Mit unserer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung 
              können wir leben, doch die gesellschaftliche Entmündigung 
              und Diskriminierung, die unser Leben täglich bestimmt, ist 
              für uns nicht hinnehmbar!" Diskriminierungen 
              behinderter Menschen In der SchweizIn 
              der Schweiz leben über 500000 Menschen mit einer Behinderung. 
              Sie sind in vielen Lebensbereichen diskriminiert: · 
              Schule: Behinderten Kindern ist der Besuch von Kindergarten 
              und Regelschule erschwert oder verunmöglicht. · 
              Arbeit: Behinderte Menschen sind vom freien Arbeitsmarkt weitgehend 
              ausgeschlossen. · 
              Öffentlicher Verkehr: Öffentliche Verkehrsmittel stehen 
              einer grossen Zahl von mobilitätsbehinderten Personen nicht 
              oder nur eingeschränkt zur Verfügung. · 
              Kommunikation: Gehörlose Menschen zahlen für ein Telefon- 
              "Gespräch" (Schreibtelefon) das Achtfache des Normaltarifs. · 
              Bauen: Ein grosser Teil der öffentlichen und privaten Bauten 
              sind für körper- und sinnesbehinderte Menschen nicht oder 
              nur erschwert zugänglich. · 
              Wohnen: Das "private" Wohnen ist wegen architektonischer 
              Barrieren und fehlender Finanzierung von Assistenzdiensten erschwert. · 
              Sexualität: In Wohnheimen sind sexuelle Kontakte eingeschränkt 
              oder verboten. Das Recht auf Privatsphäre ist nicht gewährleistet. 
              Es gibt sexuelle Übergriffe gegen behinderte Menschen. · 
              Ehe: "Geisteskranke" sind in keinem Fall ehefähig. · 
              Medizin/Forschung: Genetische Diagnostik und der Druck zur Abtreibung 
              bei positivem Befund stellen das Lebensrecht von Menschen mit Geburtsbehinderung 
              in Frage. Die fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen 
              Menschen ist unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Die 
              Parlamentarische Initiative SuterIm 
              Oktober 1995 hat Nationalrat Marc F. Suter, selber auf den Rollstuhl 
              angewiesen, unterstützt von den Organisationen der Behindertenfach- 
              und -Selbsthilfe, eine Parlamentarische Initiative zur gesetzlichen 
              Gleichstellung behinderter Menschen in der Bundesverfassung lanciert. 
              Ziel der Initiative ist es, die Rechte behinderter Menschen in Artikel 
              4 der Bundesverfassung zu verankern. Der vorgeschlagene Verfassungstext 
              lautet: "Keine 
              Person darf wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Das Gesetz 
              sorgt für die Gleichstellung der Behinderten, vor allem in 
              Schule, Ausbildung und Arbeit, Kommunikation und Wohnen; es sieht 
              Massnahmen und Anreize zum Ausgleich oder zur Beseitigung bestehender 
              Benachteiligungen vor. Der Zugang zu Bauten und Anlagen sowie die 
              Inanspruchnahme von Einrichtungen, die für die Öffentlichkeit 
              bestimmt sind, sind gewahrleistet."Diese 
              Formulierung, die sich durch fortschrittliche Gesetze anderer Länder 
              -namentlich die vorbildlichen Antidiskriminierungsgesetze der USA 
              - inspirieren liess, enthält ein Diskriminierungsverbot, ein 
              Gleichstellungsgebot und die Drittwirkung (Wirkung gegenüber 
              Privaten). Nachdem der Nationalrat der Initiative im Juni 1996 Folge 
              gegeben hat, muss nun die Kommission für soziale Sicherheit 
              und Gesundheit bis Oktober 1998 einen Bericht an das Parlament erstellen. 
              Im Moment ist noch offen, ob sich Betroffene in gleicher Sache des 
              Instrumentes der Volksinitiative bedienen wollen. Beispiel 
              "Schulische Integration"Schulische 
              Integration meint die gemeinsame Schulung von behinderten und nichtbehinderten 
              Kindern in Regelklassen des öffentlichen Schulsystems, wobei 
              für Kinder mit besonderen Lernvoraussetzungen begleitend zum 
              Unterricht die pädagogische, sonderpädagogische, therapeutische 
              oder pflegerische Betreuung vor Ort unter Verzicht auf eine schulische 
              Aussonderung bereitgestellt wird. Ein 
              rechtlicher Schutz vor Diskriminierung zwingt nun die Behörden 
              aller Stufen (Bund, Kantone, Gemeinden), vorhandene Benachteiligungen 
              im Schulbereich abzubauen und in allem Handeln auf bessere Integration 
              zu achten: In der Bundesverfassung ist festzulegen, dass die Kantone 
              den Regelschulunterricht (Primar-, Sekundar- und Mittelschule) allen 
              Kindern, behindert oder nicht, zu gewähren haben. Der Unterricht 
              hat, bezogen auf das einzelne Kind, ausreichend und unentgeltlich 
              zu sein. Im Rahmen zukünftiger Revisionen des  Invalidenversicherungsgesetzes 
              sind die von der IV finanzierten schulischen Stützmassnahmen 
              auszubauen, so dass diese aufgrund des konkreten Bedarfs gewährt 
              werden können, unabhängig davon, in welcher Schule sich 
              das Kind beziehungsweise der oder die Jugendliche befindet. Gegenüber 
              Eltern behinderter Kinder haben Schulbehörden und Lehrerinnen 
              und Lehrer aussondernde Schulung zu rechtfertigen. ChancengleichheitZiel 
              der Initiative ist es, die Chancengleichheit zwischen behinderten 
              und nichtbehinderten Menschen in allen Lebensbereichen zu fördern. 
              Die gesetzliche Gleichstellung behinderter Menschen in der Bundesverfassung 
              ist eine wichtige Voraussetzung, dass keine Person wegen ihrer Behinderung 
              benachteiligt wird. Wir nichtbehinderten Menschen müssen uns 
              die Frage stellen, ob unsere Gesellschaft behinderten Menschen das 
              Leben, das wir selber leben möchten, wenn wir an ihrer Stelle 
              wären, ermöglicht? Wenn wir uns dieser Frage stellen, 
              kann uns die Gleichstellung behinderter Menschen zu einem wichtigen 
              politischen Anliegen werden. Martin 
              Haug, geb. 1955, Heilpädagoge, Leiter "Bildungsclub Region 
              Basel".   
  
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                  / Ergänzungen: eMail: ivb@ivb.ch  |