NOOCHRICHTE 54 (Dezember 1998)

Neuer Finanzausgleich (NFA) – ein unsoziales und unethisches Vorhaben

Unter dem Titel «bürgernah - föderalistisch - günstig» versucht die «Projektorganisation Neuer Finanzausgleich» unter Federführung des Eidg. Finanzdepartements) der Öffentlichkeit die Idee des Neuen Finanzausgleichs (NFA) schmackhaft zu machen.
 
Die Argumentation:

Der Bund sei mit Aufgaben überlastet, die eigentlich von den Kantonen übernommen werden könnten. Mit einer Rückkehr zum Föderalismus und zur Subsidiarität in den wichtigsten Bereichen lasse sich der Aufwand und damit die Kosten des ganzen Systems senken.
 
Tatsache aber ist, dass sich hinter allen finanz- und staatspolitischen Lobpreisungen des NFA eine schwerwiegende Konsequenz versteckt: Wichtige Bereiche der Sozialpolitik unseres Landes würden einen grossen Teil ihrer finanziellen Basis einbüssen. Der NFA betrifft also nicht nur Finanzdirektoren und Budgetverantwortliche, sondern Menschen, die durch Behinderungen oder soziale Benachteiligungen ohnehin zu den schwächsten Gesellschaftsmitgliedern gehören.
 
Im Interesse dieser Tausenden von Behinderten und Benachteiligten unseres Landes wurde deshalb das vorliegende Argumentarium zusammengestellt. Verbände und Organisationen, die durch Massnahmen des Neuen Finanzausgleichs in ihrer Tätigkeit direkt betroffen wären, zeigen darin auf, welche Folgen der NFA für die wirklich Betroffenen hätte. Die Gesellschaft ist hiermit aufgefordert, sich zu überlegen, ob in der Sozialpolitik der Zukunft hauptsächlich Finanzverantwortliche über das Lebensschicksal behinderter und benachteiligter Menschen entscheiden sollen. Es geht nicht nur um staats- oder finanzpolitischen Entscheide, vielmehr stehen ethische Grundwerte zur Diskussion.
 
Die Hintergründe des NFA
 
Dass der Bundeshaushalt nicht auf ewig in den roten Zahlen bleiben kann und darf, ist unbestritten. Über die Art und Weise, wie er - und neben ihm die teilweise ebenfalls stark defizitären Haushalte der Kantone - ins Lot gebracht werden sollen, herrscht jedoch Uneinigkeit auf allen politischen Ebenen.
Aus dieser Situation heraus haben sich Bestrebungen entwickelt, mit sogenannten «Grossen Würfen» viele Probleme auf einmal lösen zu wollen. Die politische Erfahrung spricht jedoch im allgemeinen gegen ein solches Vorgehen, weil dann, wenn grosse Dimensionen im Spiel sind, die Kleinen unter die Räder geraten.
Und genau diese Zusammenhänge treten beim Bestreben des Bundesrates, den Finanzausgleich zwischen dem Bund und den Kantonen neu zu regeln, in aller Schärfe hervor. Das Eidg. Finanzdepartement hat im Februar 1996 gemeinsam mit der Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren eine Projektorganisation ins Leben gerufen, mit der der sogenannte Neue Finanzausgleich (NFA} politisch abgestützt werden soll. Im Prinzip geht es beim NFA darum, den Bund von gewissen Finanzierungs- und Überwachungsverpflichtungen zu entlasten und diese den Kantonen zuweisen. Der Bund würde an die Kantone noch Beiträge ohne Zweckbindung ausrichten.
Acht Arbeitsgruppen wurden eingesetzt, um einerseits die grundsätzlichen Fragen einer neuen Zusammenarbeitsform Bund - Kantone zu prüfen und andererseits die einzelnen Sachgebiete auf eine mögliche Verlagerung zu untersuchen.

Die Vorgaben waren eindeutig: Es geht darum, dass der Bund sparen will, auch wenn diese Absicht (es war anfänglich von 3 Mia. die Rede) heute aus taktischen Gründen nicht mehr laut geäussert wird.
 
Weil aber auch die Kantone in der jetzigen Situation kein grosses Interesse daran haben können, Bundeslasten zu übernehmen, ist klar, worauf dieses Vorgehen hinausläuft: Wenn Defizite zum Verschwinden gebracht werden sollen, wird in Zukunft jemand weniger Geld zur Verfügung haben. Man darf sich bei dieser Einsicht auf keinen Fall durch das vorgesehene, komplizierte Nullsummenspiel - d.h. Hin-und-her-Schieben von Leistungen und Verpflichtungen zwischen Bund und Kantonen auf unterschiedlichen Ebenen täuschen lassen.
 
Im Rahmen des NFA gehört die Invalidenversicherung (und ihre Leistungen) zu den wichtigsten Themen. Für die Organisationen im Behindertenwesen war deshalb sehr schnell ersichtlich, wer diesmal Opfer der Sparübung werden könnte. Denn dieser Bereich unserer Gesellschaft ist gekennzeichnet durch sehr differenzierte Problemstellungen wie unterschiedliche Behinderungsformen, viele individuelle Bedürfnisse und eine grosse Zahl von Leistungserbringer. Die Verbände aus dem Umfeld der Behindertenhilfe haben sofort nach Bekanntwerden der Stossrichtungen des NFA eine eigene Projektorganisation - die «IG Sozialer Finanzausgleich» gegründet, die sich den Themen des «Finanzausgleich­Sozialpaket» widmet. Konkret sind es folgende Themen, bei denen sich die Interessengemeinschaft entschlossen für die Beibehaltung der massgeblichen Bundeskompetenz einsetzt:
  • Organisation der privaten Behindertenhilfe (Art. 74a-c IVG)
  • Kollektive Leistungen an Institutionen (Art. 73 IVG)
  • Aus- und Weiterbildung von Lehr- und Fachkräften im Behindertenbereich / Ausbildungsstätten (Art. 74d IVG
  • Sonderschulfinanzierung {Art. 19 IVG)
  • Jugendstraf- und Massnahmenvollzug
Ein weiteres Thema für die IG Sozialer Finanzausgleich stellen die Ergänzungsleistungen (EL) dar, weil sie vom NFA ebenfalls tangiert sind (Arbeitsgruppe 4). Die EL gehören klar zu den individuellen Leistungen der 1. Säule (AHV/IV). Die IG setzt sich deshalb dafür ein, dass die Ergänzungsleistungen in der Bundeskompetenz bleiben, weil hier die Steuerfunktion des Bundes unverzichtbar ist.
 
Nach dem Bekanntwerden der Resultate aus den einzelnen Arbeitsgruppen
 
An der Presseorientierung vom 19. August 1997), hat eine intensive Diskussion der zu erwartenden Folgen eingesetzt. Die Opposition von Betroffenen war z. T. sehr heftig. Es ist deshalb kaum zu erwarten, dass die Empfehlungen, wie sie in den Schlussberichten der einzelnen Projektgruppen enthalten sind, politisch realisiert werden können. Weil der NFA sehr unterschiedliche Gesellschaftsbereiche mit komplexen Strukturen und Zusammenhängen betrifft, ist die Information und Aufklärung darüber jedoch sehr wichtig und notwendig. Konkret heisst das, die Ansprüche und Bedürfnisse der Behinderten und Benachteiligten in unserer Gesellschaft müssen in der öffentlichen Meinungsbildung und im Vernehmlassungsverfahren mit aller Kraft dargestellt werden. Nur so kann die Entscheidungsfindung der für Gesetzesinhalte zuständigen National- und Ständeräte im günstigen Sinne beeinflusst werden.
Zielsetzung ist, dass dem Volk unter dem verharmlosenden Titel NFA kein massiver Sozialabbau auf Kosten der Behinderten verkauft werden kann. Die IG Sozialer Finanzausgleich lehnt deshalb eine Kantonalisierung in den von ihr vertretenen Interessenbereichen grundsätzlich ab.
 
Die Stossrichtung des NFA
 
Charakteristisch am NFA ist, dass er nicht sachlich auf der Ebene der betroffenen Gesellschaftsbereiche begründet wird, sondern vorwiegend finanziell und staatspolitisch. Für die Projektorganisation besteht das Hauptargument darin, dass die Verflechtungen und Kompetenzverwischungen zwischen Bund und Kantonen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben. Die Kantone seien so zu reinen Vollzugsorganen geworden, während der Bund die Leistungserstellung nicht mehr genügend steuern und kontrollieren könne. Nun sei die Revitalisierung des Föderalismus angesagt - durchzuführen hier über eine Revision des IVG.
 
Nimmt man diese Argumentation beim Wort, wird klar, dass es sich eben doch nicht um ein primär finanzielles Problem handelt, sondern um ein organisatorisches bzw. um ein Führungsproblem. Und auf dieser Ebene wäre es zu lösen. Es ist jedoch nicht damit zu lösen, dass die Qualitätsvorgaben und die Kontrollfunktionen der IV aufgelöst und 26 mal unterschiedlich neu organisiert werden. Das gilt unabhängig davon, dass der Bund zusammen mit Organisationen, Institutionen und den Kantonen Arbeitsgruppen eingesetzt hat, um organisatorische Probleme zu lösen und führungsmässige Schwächen im System zu beheben. Gerade dieses sinnvolle Vorgehen würde torpediert.
 
Die Zuständigkeit des Bundes hat bis jetzt dafür garantiert, dass kantonsübergreifende Institutionen überhaupt existieren können. Die Spezialisierung einzelner Anbieter auf bestimmte Leistungen, die von Behinderten aus verschiedenen Kantonen benötigt werden, ist kostengünstig und ermöglicht die Entwicklung spezifischer Fachkompetenz (analog z.B. zu medizinischen Zentren für Rehabilitation oder Transplantation). Einzelne, stark spezialisierte Betreuungsangebote - z.B. die Rehabilitation von Seh- oder Hörbehinderten - wären ohne dieses System kaum mehr realisierbar.
 
Kantonale Unterschiede, je nach unterschiedlicher Organisationsqualität und Finanzlage, darf es gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft nicht geben, der Anspruch auf gleiche Behandlung ist unteilbar. Und dass mit einer Kantonalisierung Probleme im Sozialbereich nicht gelöst, sondern noch verschlimmert werden können, zeigt die Erfahrung.
Soziale Sicherheit ist eine nationale Aufgabe, verknüpft mit einer grossen ethischen Verpflichtung. Sie eignet sich nicht als Spielfeld für Finanz- und Machtpoker.

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IVB / 08.01.2003