NOOCHRICHTE 57 (September 1999)

«Lasst uns würdig leben – Assistenzfond jetzt!»

Die Rationierung – nicht zu verwechseln mit der Rationalisierung – findet im Pflegebereich längst statt.

Nach Krankenversicherungsgesetz (KVG) ist die Pflege zu Hause von den Krankenkassen zu finanzieren. Doch diese führen – mit passiver Unterstützung durch das BSV – immer enger gesteckte Leistungslimiten ein. Pflegebeiträge von IV und Kantonen werden fast ausschliesslich an Institutionen ausgerichtet. Dies zwingt Behinderte de facto, in (teuren) Wohnheimen zu leben. Mit ihrer Protestaktion «Lasst uns würdig leben» vor dem Bundeshaus fordern Menschen mit Behinderungen die sofortige Schaffung eines Assistenzfonds.

Bei der Abstimmung zum neuen KVG wurde damit geworben, dass damit die Grund- und Behandlungspflege Zuhause (Spitex) von der Krankenversicherung obligatorisch gedeckt seien. Dies brachte – eigentlich logischerweise zu erwartende – Mehrausgaben für die Krankenkassen. So dauerte es auch nicht lange, bis der Ruf der Versicherer nach Mengenlimiten und Kontrollen laut wurde. In einer Verordnungsänderung wurden Bedarfsabklärung und Kontrollstelle für die Pflege zu Hause eingeführt. Gleichzeitig setzte der Bundesrat Rahmentarife zwischen 10.— und 70.— Franken pro Tag für Pflegeheime fest, um Kostentransparenz in diesem Bereich herzustellen.

Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit

Alle Leistungen gemäss KVG müssen «zweckmässig und wirtschaftlich» sein und «im Interesse der Versicherten» liegen. Doch was bedeutet wirtschaftlich und zweckmässig? Während die direkten Kostenträger nur ihre eigenen Ausgaben hierbei berücksichtigen wollen, betonen Ökonomen wie z.B. der Lehrbuchautor Bernhard Beck die Notwendigkeit, die volkswirtschaftlichen Kosten in ihrer Gesamtheit zu betrachten, sollen Gesundheits- und Sozialkosten auch noch in Zukunft finanzierbar sein. Mit dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom Dezember 1998 im «Fall Dorscheid» wurde offensichtlich: die Krankenkassen definieren «Wirtschaftlichkeit» nur noch aufgrund der Kosten, welche ihnen im Vergleich zwischen Spitex und Pflegeheim entstehen würden. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV, Kontrollorgan der Versicherer!) hingegen vertritt die Auffassung, dass diese Auslegung in keinem Fall dem Willen des Gesetzgebers entspricht und zu nicht gewollten Verzerrungen hin zur Institutionalisierung (Pflegeheim) führen wird. Fakt ist, diese Mengenlimite wird von den Krankenversicherern nun gnadenlos durchgeboxt. Das BSV schaut – nicht ganz ohne politische Absichten – tatenlos zu.

Schwarzer-Peter-Spiel

Körperpflege, Haushaltshilfe und lebenspraktische Begleitung sind existentielle Bereiche, in welchen Menschen mit Behinderungen und Kranke auf Unterstützung angewiesen sind. Traditionellerweise werden Behinderte und chronisch Kranke «betreut» oder «versorgt». Das heisst, Institutionen erhalten Geld, um sie – d.h. die ganze Verantwortung für ihr Wohlbefinden – zu übernehmen. Traditionellerweise treten diese Institutionen im Namen ihrer Klientel auf und sorgen dafür, dass ihnen Gelder aus Bundes-, Kantons- und Gemeindekassen und von den Krankenkassen zufliessen.

Behinderte und chronisch Kranke könnten mit der selben Menge Geld oft durchaus in ihrer angestammten Umgebung leben – ja oft die benötigte Assistenz selber organisieren und so der Allgemeinheit viel Geld und Mühe sparen. Aber was die direkt Betroffenen wollen, interessiert eigentlich niemanden. Zu gross ist das Geschäft mit Krankheit und Behinderung für alle anderen Beteiligten.

Was fehlt, ist eine volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtung der anfallenden Kosten und die Bereitschaft, die normalen Menschenrechte (freie Wahl des Wohnortes, Schutz der Intimsphäre etc.) auch jenen zuzugestehen, die nicht in der Lage sind, selbst dafür zu bezahlen. Statt dessen versucht jeder Kostenträger, den «Fall» in einen anderen Topf zu werfen. So taucht «das Problem» einfach wo anders wieder auf. Die IV zahlt für Betreuung im institutionellen Bereich (Wohnheime, Sonderschulen, Werkstätten) jährlich um die 1,3 Milliarden Franken, im privaten Bereich jedoch keine 200 Millionen Franken. Die Bilanz von Kantonen/Gemeinden sieht ähnlich aus. Bei den Ergänzungsleistungen gelten im privaten Bereich ebenfalls viel tiefere Limiten als im institutionellen.

Wenn nun die Krankenkassen ihre Wirtschaftlichkeitsrechnung allein auf die bei ihnen anfallenden Kosten beschränken – und gleichzeitig nur teure LeistungserbringerInnen bei der Pflege zu Hause anerkennen (dürfen) – wie soll es dann Menschen mit Behinderungen möglich sein, in der Gesellschaft zu verbleiben? Sie werden so systematisch in die (teurere) Institution abgeschoben. Aus dem Auge, aus dem Sinn.

Davon direkt betroffen sind alle chronisch Kranken und behinderten Menschen, welche nicht auf die Gratisarbeit ihrer Familie zurückfallen können und mehr als eine Stunde pro Tag Assistenz benötigen. Eine Stunde, das heisst konkret :
4 Minuten WC + 15 Minuten Morgentoilette, 10 Minuten frühstücken, 15 Minuten Mittagessen, 12 Minuten Abendessen, 1 Minute zu Bett gehen, 0 Minuten sich Nachts umdrehen.

Assistenzfond

Das Schwarzer-Peter-Spiel hat sich in den letzten Wochen massiv verschärft. Krankenkassen überweisen neuerdings nur noch einen Bruchteil der eingereichten Spitexrechnungen und lassen die Betroffenen oft monatelang auf eine rechtsgültige Verfügung warten. Sie schreiben Briefe an die Hausärzte der Betroffenen, in denen eine Heimeinweisung «zum Wohl der Betroffenen» geradezu gefordert wird. Ist eine Verfügung endlich eingetroffen, müssen sich die Betroffenen in einem langen, zermürbenden Kampf durch die Rechtsinstanzen wehren. Wer aber existenziell auf Pflege angewiesen ist, kann nicht warten. Die Kapitulation ist damit vorprogrammiert! Selbstverantwortung wird bestraft und Selbstbestimmung verunmöglicht. Belohnt wird, wer aufgibt, und sich passiv den Institutionen in die Hände gibt.
Europäische Länder wie Schweden, Grossbritannien oder die Niederlande kennen personenorientierte Budgets; Österreich und Deutschland Pflegeversicherungen. Auch im BSV macht man sich Gedanken zu der Einführung einer Assistenzentschädigung. Doch dies wird noch Jahre dauern – Zeit, welche die heute Betroffenen nicht haben!

Darum sind wir Behinderten mit unseren Pflegebetten am 16.6.99 vor dem Bundeshaus und forderten als dringliche Massnahme die sofortige Einrichtung eines Assistenzfonds. «Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke dürfen nicht länger als Spielball zwischen Versicherern und Leistungserbringern dienen. Sie haben ein Recht auf freie Wahl ihrer Lebensgestaltung,» betont Peter Wehrli, Leiter des ZSL Zürich und verweist auf die Resolution, welche allen ParlamentarierInnen ausgehändigt wird.
Die sofortige Einführung eines Assistenzfonds, in welchen alle bisherigen Kostenträger ihren bisherigen Anteil an Pflegebeiträgen einzahlen, würde es ermöglichen, ohne grossen (und langwierigen) Umbau der Sozialversicherungen, jetzt subjektorientierte Unterstützung zu gewährleisten. «Alle wollen, dass wir Behinderten in Würde sterben können sollen. Das ist sicher billiger als uns in Würde leben zu lassen» sagt Frau E. Schulthess, eine der Betroffenen auf dem Bundesplatz.

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IVB / 08.01.2003