NOOCHRICHTE 65 (Dezember 2001)

Ein Urteil schlägt in Frankreich hohe Wellen

Aufregung um Prozess in Paris!

Der sechsjährige Lionel bekam vom Pariser Kassationsgericht Schadenersatz zugesprochen, weil er nicht abgetrieben wurde und jetzt mit dem Down-Syndrom leben muss. Seine Eltern hatten gegen den Frauenarzt geklagt, der sie nicht auf die Behinderung des Fötus hingewiesen hatte.

Ein Urteil schlägt dieser Tage in Frankreich hohe Wellen. Der sechsjährige Lionel bekam vom Pariser Kassationsgericht Schadenersatz zugesprochen, weil er nicht abgetrieben wurde und jetzt mit dem Down-Syndrom leben muss. Seine Eltern hatten den Frauenarzt geklagt, der sie nicht auf die Behinderung des Fötus hingewiesen hatte.

Umstrittener Präzendenzfall

Das Höchstgericht folgt damit dem umstrittenen Präzedenzfall vor einem Jahr, als ein 17-jähriger Schwerstbehinderter dafür entschädigt wurde, nicht abgetrieben worden zu sein. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft an Röteln gelitten und war nicht über die Risiken aufgeklärt worden.

«Besser tot als behindert?»

Dieses neuerliche Urteil löste landesweit einen wahren Proteststurm aus. «Das bedeutet, dass es besser ist, tot zu sein als mit einer Behinderung zu leben. Dieser Gedanke ist unerträglich», sagt der Vater eines behinderten Kindes

Nicht wert zu leben!

Und der Präsident eines Behindertenverbandes, Patrick Gohet, bezeichnet die Rechtssprechung als menschenverachtend: «Die Tatsache, geboren zu werden und zu leben, kann doch nicht als Schaden bezeichnet werden. Seit Jahren arbeiten an einem positiven Bild von Behinderten. Und dann urteilen die Höchstrichter, dass es Leben gibt, die es nicht wert sind, gelebt zu werden.»

Warnung vor Eugenik

Vertreter der Kirche und aller politischen Parteien warnen vor der Eugenik als Vorsichtsmassnahme und davor, möglicherweise nicht perfektes Leben zu vernichten. Auch die Frauenärzte wehren sich gegen den Druck, für gesunde Kinder verantwortlich zu sein: «Wir tun, was wir können, aber man darf nicht von uns verlangen, dass wir zu 100 Prozent richtige Diagnosen erstellen», sagt der Gynäkologe René Frydman. «Diese Logik der Justiz ist mit jener der Menschlichkeit und der Medizin nicht vereinbar».

Weniger Untersuchungen?

Die französischen Gynäkologen drohen jetzt, künftig weniger Ultraschalluntersuchungen von Schwangeren durchzuführen, um für eine Fehl-diagnose nicht haftbar gemacht zu werden. Umso mehr, als die Versicherungen der Ärzte seit dem Urteil vor einem Jahr ihre Prämien verzehnfacht haben.

Gesetzgeber auf Anklagebank!

Unterdessen wird der Ruf nach dem Gesetzgeber immer lauter. Neben zahlreichen Politikern fordert auch der Generalstaatsanwalt des Höchstgerichts, dass solchen Urteilen gesetzlich ein Ende bereitet wird. Doch der französische Staat sieht sich selbst auf der Anklagebank: Ein Behindertenverband hat wegen der Rechtssprechung des Kassationsgerichts juristische Schritte eingeleitet.

Die beiden konservativen Abgeordneten Bernard Accoyer und Jean-Michel Dubernard forderten nach dem Urteil, dass ähnliche Fälle vorerst nicht mehr vor Gericht verhandelt werden sollten. Zunächst müsse das Pariser Parlament die bestehende Rechtslage überprüfen.

 

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IVB / 09.10.2011